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Grosskopfete
Riesenfiguren überragen (nicht nur) die Fastnacht

Text: Jürgen Stoll

Großkopfete, „grosses têtes“ oder – europäisch-ethnologisch korrekt – Umgangsriesen überragen in ihrer Dimension nicht nur die Fastnacht bzw. bei unseren französischen Nachbarn das Fest des Mittfastens („Mi- Carême“) und deren üblicherweise nicht über das Normalmaß hinausgehenden Protagonisten. Zahlreiche andere weltliche oder religiöse Feierlichkeiten des Jahreskreises werden ebenfalls dominiert von riesenköpfigen Gestalten. Bedeutend ist sicherlich die Darstellung eines kinderfressenden Riesen in den Handschriften des Nürnberger Schembartlaufs.


Der Gole aus Riedlingen – vermutlich lässt sich sein Name
von Goliath herleiten. Foto: Wulf Wager


Samson mit Zwergen in Tamsweg im Salburger Lungau (Österreich)






Der Lange Mann beim
Rottweiler Narrensprung.
Foto: Wulf Wager
In der schwäbisch-alemannischen Fastnacht begegnet uns, erstmals 1818 erwähnt, der Gole in Riedlingen, dessen Namensherkunft noch bis heute auf eine endgültige Klärung wartet. Oder in Rottweil der lange Mann und das dicke Weib, erstmals 1877 genannt. Oberndorf am Neckar kann nach einer Schenkung von 1927, wohl aus Rottweiler Bestand, mit der Langen Tante aufwarten. Eine weitere Gigantin, die Riesendame, bereichert als Einzelfigur die an närrischen Umzügen reiche Wolfacher Fasnet. Riesige Hemdglonker mit Nachthemd und Zipfelmütze prägen die auf Lärmumzüge zurückzuführenden nächtlichen Umgänge am Bodensee. Die „Meenzer Fastnacht“ wird ebenfalls von Hünen überragt, nämlich von den Schwellköpp mit noch relativ junger Historie, 1927 sind sie erstmals als „Dickköpp“ aufgetaucht. Von ähnlich überdimensionierten Tambourmajoren werden die Basler Guggenmusiken dirigiert. Eine frappierende Ähnlichkeit mit den „Meenzer Schwellköpp“ haben die Dickköpf aus Haslach bei Freiburg, die seit 1934 die Fastnacht der Breisgaumetropole bereichern. Die Schnappviecher aus Tramin in Südtirol oder das Stadttier aus Endingen am Kaiserstuhl stellen die wenigen zoomorphen Vertreter dieser Riesengestalten im deutschsprachigen Raum dar. Hierzulande weniger bekannt, in ihrer europäischen Dimension allerdings sehr bedeutend, sind die Umgangsriesen unserer europäischen Nachbarn Österreich, Frankreich, Belgien, Holland und Luxemburg, insbesondere aber auch Südeuropas mit Spanien, Italien und Portugal. Bemerkenswert ist zudem die Existenz von „Giants“ jenseits des Kanals. So sind die in der Londoner Guildhall verewigten Riesen „Gog“ und „Magog“ für London überliefert. In unmittelbarer Nähe der Steinzeitmonumente von Stonehenge zu Hause ist „The Salisbury Giant and Hob-Nob“, dessen Gefolge aus einem Narren sowie sechs Moriskentänzern besteht.


Das Pferd Bayard mit den vier Haimondskinder ist die größte
Figur im Reich der Umgangsriesen. Foto: Archiv


Auf europäischer Bühne dürfte wohl das Pferd Bayard mit den vier Haimonskindern der größte tierische Vertreter der Umgangsriesen darstellen. Dieses in Dendermonde in der belgischen Provinz Ostflandern beheimatete Wunderross geht auf eine karolingische Sage zurück. Die auf dem gigantischen Pferd reitenden sogenannten Haimonskinder, denen das starke Tier aus einer ausweglosen Situation geholfen hat, entstammen der Ehe der Schwester Karls des Großen mit dem Grafen Haimon. Beim Umzug sind etwa 16 Männer erforderlich, um die Pferdefigur mit einem Gewicht von über 600 Kilogramm zu bewegen. Darauf sitzen in einer luftigen Höhe von 6,20 Metern vier Kinder aus Dendermonde. Bereits 2005 wurde das Ross Bayard von der UNESCO als Weltkulturerbe erklärt. Der große Ross-Bayard-Umzug findet nur alle zehn Jahre statt, das nächste Mal erst wieder im Jahr 2020.

Die lange Frau in Weingarten, 1949 Foto: Archiv Jürgen Stoll


Dass die Einwohner des flandrischen Städtchens einen Narren an solchen Riesen gefressen haben, bezeugt der alljährlich im August stattfindende „Katuit“ mit den drei Riesen Mars, Goliath und Indianer. Auch dieser Umzug zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe. Einige dieser belgischen Riesenfiguren fanden als Motivserie bis 1962 Verwendung auf den in ganz Europa eifrig gesammelten Liebig-Bildern. Diese Sammelbilder waren einem Fleischextrakt beigefügt, der auf eine Entwicklung des deutschen Chemikers Justus Liebig zurückgeht.

Spanien kann ebenfalls auf eine stattliche Anzahl von Umgangsriesen verweisen. Eine Darstellung aus dem Jahre 1870 zeigt ein Riesenpaar in katalanischer Tracht als Mittelpunkt des närrischen Treibens in Barcelona. Pamplona, Hauptstadt der autonomen Region Navarra, datiert seine Riesen und Dickköpfe bereits in das 16. Jahrhundert. Neben den auch durch Ernest Hemingways Roman „Fiesta“ weltberühmt gewordenen Stierläufen sind die „Comparsa“, ein Gefolge riesenköpfiger Pappmascheefiguren, wichtiger Bestandteil der alljährlich stattfindenden „Sanfermines“, Festlichkeiten zu Ehren des Schutzpatrons der Stadt, Firmin des Ältere von Amiens. Die sogenannten Kilikis, Figuren mit einem Dreispitz auf dem Kopf und schlecht gelauntem Gesichtsausdruck, sind bewaffnet mit der aus der schwäbisch-alemannischen Fastnacht bekannten Schweinsblase.

Die lange Frau in Weingarten, 1949
Foto: Archiv Jürgen Stoll


Der Vollständigkeit halber seien noch Riesengestalten in Mexiko und Brasilien genannt, die u. a. zum Brauchspiel der Weihnachtszeit gehören.

Starke Männer standen Pate

Samson, Goliath, aber auch der riesenhafte Christophorus stehen insbesondere Pate für die zahlreichen Umgangsriesen im Salzburger Land in Österreich, so in Mauterndorf, Ramingstein oder in Tamsweg. In Tamsweg erleben wir den Wandel vom Goliath, erstmals 1720 erwähnt, zum heutigen Samson, der von zwei Zwergengestalten begleitet wird. An zwei Festtagen, am Sonntag nach Fronleichnam und am Jakobitag, dem 25. Juli, ist die mehr als sechs Meter große und 88 Kilogramm schwere Figur Mittelpunkt des Festzuges. Die in Ath in Belgien zu findende Figur des Samson, 1482 erstmals erwähnt, mit dem biblischen Attribut der als Bewaffnung dienenden Eselskinnbacke in Vergesellschaftung mit dem Riesen Goliath lässt zumindest mutmaßen, dass diese biblischen Riesen durchaus auch Paten des Riedlinger Goles gewesen sein könnten. Hierfür spricht sicherlich auch die Erwähnung eines Riesen Goliath und des Königs David in der Pfingstprozession des etwa 80 Kilometer von Riedlingen entfernten Ortes Zimmern bei Rottweil. Klaus Beitl führt in seiner volkskundlichen Monografie von 1961, „Die Umgangsriesen“, ebenfalls für zahlreiche bayerische (München, Wasserburg), baden-württembergische (Nusplingen) bzw. hessische Städte (Herbstein) Überlieferungen von Riesengestalten an. Im aktuellen deutschen Brauchtum finden sich außer dem Riedlinger Gole bzw. den bereits genannten Riesen in Rottweil, Oberndorf, Konstanz, Wolfach und Radolfzell keine weiteren Umgangsriesen mehr.

Karneval in Barcelona (Spanien) 1870
Foto: Archiv Jürgen Stoll


Großfamilien

Insbesondere der Norden Frankreichs und Belgiens darf sich sicherlich als eine Hochburg der Riesengestalten verstehen. Allein die Auflistung aller „Geants“, es sind über 500, die teils zum immateriellen Kultur­erbe der Menschheit durch die UNESCO ernannt wurden, würde hier den Rahmen sprengen. Im nordfranzösischen Douai findet sich gleich eine komplette Riesen-Familie („Gayant et sa famille“). Die Größe dieser teils bis in das 16. Jahrhundert nachweisbaren Riesen bedingt, dass diese nicht wie ihre salzburgischen Vettern durch eine Person getragen werden können. Mehrere Träger sind erforderlich, damit zum Beispiel „Madame Gayant“ in Douai das Gleichgewicht nicht verliert. Zahlenmäßig auf inzwischen 30 Mitgliedern angewachsen, dürften allerdings die „Meenzer Schwellköpp“ zur größten Gruppe der etwas jüngeren Umgangsriesen gehören. Interessant ist das mehrfache Auftreten eines Riesenpaares (Reus und Reußin), wie für Gent überliefert. In Ath im belgischen Hennegau wird die Begleiterin schlicht als „Madame Goliath“ bezeichnet. Bemerkenswert ist der Riedlinger Versuch, 1954 dem Gole eine Gattin, die Golia an die Hand zu geben. Leider war ihr wohl aus noch mangelndem emanzipatorischem Verständnis keine Zukunft beschieden.

Riesenfigur Kinderfresser beim Nürnberger Schembartlaufen
Foto: Archiv Jürgen Stoll


Riesen zu jedem Anlass, das ganze Jahr über

Außer beim Karneval („Mardi Gras“) oder auch „Mi-Carême“, dem Mittfasten, sind Umgangsriesen insbesondere in Frankreich und Belgien so ziemlich an jedem denkbaren Festtag unterwegs. Insbesondere Exemplare mit jüngerer Historie finden sich bei Stadt- oder Gemeindefesten, an Ostern (Aire-sur-la-Lys), dem Fest der heiligen Barbara, am Tag der Mühlen, dem Fest der Kartoffel, des Brotes oder des Knoblauchs (1. Sonntag im September in Arleux).

Die zu letzterem Anlass erst im Jahr 2003 entstandene Riesenfigur des „Grin’ Batiche“ als Knoblauchflechter, zusammen mit seiner Begleiterin Henriette als Trägerin, lässt eine kommerziell-touristische Entstehung vermuten. Die Giganten von Arleux versinnbildlichen die über 200 Jahre alte Tradition des Knoblauchräucherns in dem kleinen nordfranzösischen Städtchen.

Schwerstarbeit trotz Leichtbauweise

Riesenfiguren mit bis zu elf Metern Höhe (Nieuwport/Flandern) bzw. einem Gewicht von bis zu 420 Kilogramm (Leper/Flandern) verlangen von den bis zu zehn Trägern nicht nur Muskelkraft und Geschick, sondern auch die volle Hingabe in ihr „schweres“ Amt. „Belgische Riesen“ werden vereinzelt auf einem rollenden Podest bewegt. Eine ähnliche Fortbewegungsart bevorzugt das Londoner Riesenpaar „Gog und Magog“. Durch Leichtbauweise mit Innengerüsten aus Weidenruten, aber auch durch modellierte Köpfe aus Pappmaschee lässt sich das Gewicht reduzieren. Vereinzelt aus Holz geschnitzte Köpfe oder aber aus Kupferblech getriebene Brustpanzer lassen relativ wenig Spielraum für Einsparungspotenzial beim Gewicht.

Überliefert insbesondere für Österreich ist die Weitervererbung des verantwortungsvollen Amtes eines Trägers, dessen Entlohnung oftmals nur in einer stärkenden Mahlzeit besteht. Über drei Jahrzehnte sind für einzelne Träger dokumentiert. Der in Mainz ansässige „Schwell-Kopp-Träscher-Club“ hat die „Trägerschaft“ der gleichnamigen Symbolfiguren übernommen. Mit einem „Casting“ auf einem eigens hierfür präparierten Hindernisparcours werden jährlich die Träger der bis zu 25 Kilogramm schweren Figuren für den etwa sieben Kilometer langen Rosenmontagszug ausgewählt.

Riesendame beim Fasnetsumzug in Weingarten 1928
Foto: Plätzlerzunft Weingarten


Riesen von der Stange aus der Manufaktur

Während es sich insbesondere bei den geschilderten Figuren der Samson- und Goliathumzüge oftmals um Einzelanfertigungen handelt, deren Köpfe geschnitzt oder aus Pappmaschee modelliert wurden, boten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Manufakturen in Deutschland und Frankreich Riesenmasken aus Pappmaschee für das karnevaleske Vergnügen an. Die „Fabrique de Masques“ in der 35. Rue Turbigo in Paris offerierte in ihrem Katalog von 1925 „têtes“ zum Stückpreis von 40 Francs an. Werkstätten in Nizza fertigten für ihren Karneval bereits serienmäßig „grosses têtes“, die auch auch als Vorlage für die bereits erwähnten „Meenzer Schwellköpp“ dienten. Südthüringer Maskenmanufakturen belieferten ihre Kundschaft in der ganzen Welt bis in die 1970er-Jahre mit Großmasken aus Pappmaschee. Dass schwäbisch-alemannische Fastnachtshochburgen gerne auch einmal auf eine „großkopfete“ Maskierung von der Stange zurückgegriffen haben, bezeugen immer wieder in den Archiven auftauchende fotografische Hinterlassenschaften. Beispielgebend darf hier eine wunderschöne Szene in den 1950er-Jahren in Gengenbach im Kinzigtal angeführt werden. Wohl als Hingucker oder neudeutsch: „Eyecatcher“ assistierten hier drei „Molliköpfe“ (alemannisch für Dickkopf) beim Verkauf des Narrenblättchens.

Zahlreiche Basler Larvenateliers fertigen bis heute noch für den Tambourmajor der Guggenmusik überdimensionale Masken in aufwändiger Einzelanfertigung, die dann auch gut und gerne jeweils einen vierstelligen Betrag kosten dürfen.

Renaissance

Eine kleine Renaissance erfuhren in den letzten Jahren Großmasken aus Pappmaschee, überwiegend in Südthüringen gefertigt. Insbesondere auch Hochburgen der schwäbisch-alemannischen Fastnacht wurden von den papierenen Riesen heimgesucht. So lassen sich „antike“ Exemplare u. a. beim Wächsebrauch in Bad Waldsee, am „Fasnetmeentig“ in Endingen am Kaiserstuhl oder aber beim närrischen Treiben in Rottenburg am Neckar beobachten. Nicht wenige Exemplare ziehen zum Beispiel als „Narrenbolezei“ den närrischen Umzügen voran. Zahlreiche eingestaubte Exemplare, so die eigene Sichtung des Autors, schlummern in den Archiven vieler Zünfte, Vereine und Gesellschaften, vielfach ohne Kenntnis der Besonderheit dieser närrischen Spezies. Bleibt ihnen zu wünschen, dass sie wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung, der Bereicherung des närrischen Treibens, zugeführt werden.


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