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Narr sein = Begegnung der Seelen
Günter Schenk plädiert für neue närrische Formen
Alle Fotos: Günter Schenk

Es gärt im Reich der Narren. Die Quoten der Fernsehfastnacht stagnieren oder schwinden. Närrische Vereine haben immer weniger Zulauf. Und wer die Narrensprünge im Fernsehen kritisch und nicht nur durch die rosarote Brille des Lokalpatrioten sieht, spürt, dass der dort gezeigte Jubel oft nur karnevalistische Pflichterfüllung ist. Stößt die Fastnacht angesichts eines ganzjährig närrisch angehauchten Unterhaltungsangebots langsam an die Grenzen der Lebensfreude? Büßt das Fest jetzt für die Lieblosigkeit, mit der viele Frohsinnsmanager lange Zeit mit ihm umgegangen sind? Verschwinden nach Reval und Borgward, der DDR und Hertie bald auch die Fasnet und der Karneval? Müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen um unsere Fasnet?


Unübersehbar ist die Krise der Fastnacht inzwischen auch im deutschen Südwesten. So sucht die Große Karnevalsgesellschaft Ulm seit Jahren nach Prinzenpaar und Gardemädchen. „Die Leute“, meinte die Schriftführerin des Vereins „Katza-strecker“ im schwäbischen Blaustein angesichts der schwindenden Saalfastnacht, „sitzen rum und lassen die Köpfe hängen“. Oft sind es nur ein paar Dutzend Feierwütige, die sich in den großen Turnhallen des Landes auf Faschingsbällen vergnügen.

Für jeden zehnten Deutschen, ergab eine aktuelle und repräsentative Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie unter fast 2000 Bundesbürgern, ist die Fastnacht nicht mehr zeitgemäß. Schwarz auf weiß belegten die Meinungsforscher damit erneut, dass immer mehr Menschen mit dem Fest immer weniger anfangen können. 43 Prozent der Befragten erklärten den Demoskopen weiter, dass sie sich nichts aus der Fastnacht machen würden.

Im Dschungel einer globalen Unterhaltungswelt scheint die närrische Seele unter die Räder der Spaßwalze gekommen zu sein. Vor allem aber ist der Sinn des Narrentreibens abhandengekommen, gilt es in den Tagen vor Aschermittwoch doch, die Welt auf den Kopf zu stellen, aber nicht sich selbst in ihren Mittelpunkt zu rücken. Den organisierten Narren fehlt vielerorts der Nachwuchs. Zwar bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel, meist aber ist das närrische Stammpersonal im Pensionsalter oder kurz davor. Deutschlands renommierteste Fastnachtssitzung, die Fernsehübertragung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“, schauen mehrheitlich längst nur noch Senioren und Seniorinnen. Junge Leute, so scheint es, haben für abendfüllende Karnevalssitzungen genauso wenig übrig wie für langweilige Umzüge. Zudem leidet die organisierte Fastnacht wie Gesangvereine und politische Parteien unter massivem Mitgliederschwund.


Entscheidend aber ist, dass die Fastnacht nur noch kalendarisch in einen kirchlichen Reigen eingebunden ist, aus dem ihre Väter einst den Sinn des närrischen Treibens schöpften. An der Schwelle zur vorösterlichen Fastenzeit markierte der Mummenschanz die letzte Gelegenheit, noch einmal über die Stränge zu schlagen, die Welt für ein paar Stunden aus den Angeln zu heben und sich den Bauch vollzuschlagen. Es war eine Zeit ungezügelter Lebenslust – auch im deutschen Südwesten, wie viele mittelalterliche Quellen beweisen. Jahrhunderte zogen die Narren ausgelassen und trunken durch die Lande, feierten auf Teufel komm raus. Ein orgiastisches Treiben war das oft, dem die Ordnungsbehörden mit immer neuen Verboten begegneten. Bis zu drei Tage lang regierte zu Fastnacht auf den Straßen das närrische Volk, über das die neuen Bildungsbürger Ende des 18. Jahrhunderts die Nase zu rümpfen begannen. In den Zeitungen, ihren ersten Sprachrohren, stempelten sie die fröhlich feiernden Volksnarren zum besoffenen Pöbel.

Und heute? Regen sich viele Bürger eben wieder auf, weil Zehntausende junger Leute Fasnet feiern, bis die Wände wackeln, sich nicht scheren um Tradition oder närrisches Regelwerk. Je jünger die Narren, haben die Meinungsforscher in Allensbach herausgefunden, desto aktiver sind sie. Jeder dritte Bundesbürger unter 40 Jahren ist so heute an den närrischen Tagen unterwegs. Statt im großen Saal aber feiert diese Generation lieber auf der Straße, in kleinen Kneipen, Pubs oder Jugendkellern, spontan und ungezwungen und, wenn immer möglich, zum Nulltarif.

Die neue Fastnacht der Jugend hat ihr eigenes Gesicht – und eine alte Tradition. Denn was Teens und Twens heute vielerorts feiern, kritisch beäugt von den etablierten Narren und Ordnungsbehörden, ist die Fasnet des Volkes. Jene Form des Festes, die ihnen die Väter des organisierten Karnevals einst mit der Erfindung von Karnevalssitzungen und närrischen Umzügen genommen hatten. In bis dahin kaum gekannter Eintracht hatten sich Anfang des 19. Jahrhunderts Kaufleute, Bildungsbürger und Intellektuelle zusammengefunden, um mit Zug und Sitzung dem bis dahin ungestümen und ge-wöhnlich unorganisierten Treiben erste Fesseln anzulegen. Zwar fanden schon vorher immer wieder närrische Umzüge und karnevalistische Saalveranstaltungen statt, vor allem bei Hofe, so radikal wie Köln aber baute keine andere europäische Stadt die Fastnacht um. Was dort 1823 aus der Taufe gehoben wurde, war eine Art närrischer Blaupause. Ein Modell bürgerlicher Lebensfreude, das schnell Schule machte – auch in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht, wo man die traditionellen Maskenkleider ablegte und statt dessen Prinz Karneval huldigte.

Schon der Name des ersten Kölner Vereins war Programm, nannte sich die Gruppierung doch nicht wie heute „Festkomitee“, sondern „Festordnendes Komitee“. Nicht um die Feier ging es den Organisatoren, sondern um Ordnung, um die Kontrolle über ein Volksfest.


Für die Obrigkeit war die neue und organisierte Fastnacht ein Glücksfall, war es mit ihrer Hilfe doch jetzt leichter möglich, mit Genehmigungen oder Verboten den närrischen Geist zu kanalisieren. Gerade im Vormärz konnte der Staat so die Freiheitsbestrebungen der Deutschen, die sich wie in Mainz in den Karnevalsvereinen artikulierten, weitgehend eingrenzen. Was mancher Historiker später als närrischen Widerstand deutete, närrische Proteste gegen die Pressezensur etwa, war genau betrachtet nur die staatlich gewollte Ableitung des Volkszorns. Ein Modell, das man lange Zeit ähnlich auch in der DDR pflegte, wo man nach anfänglichen Verboten den Karneval zur volkseigenen Überdruckkammer machte, zu einem staatlich streng kontrollierten Ventil.

Zwar hatte man im deutschen Südwesten die karnevalistischen Formen schon bald wieder abgelegt, kehrte man, wie in Rottweil und anderen Städten, zum alten Mummenschanz zurück; so frei und authentisch wie der nach außen wirkte, aber war er nicht. Im Gegenteil: Zünfte übernahmen jetzt die Ordnung, schrieben bis ins Detail vor, wie eine Maske auszusehen habe, und beriefen sich bei ihrem Treiben auf alte Traditionen. Ordnung war gefragt, auch Disziplin, die Freiheit des Narren war eine neu organisierte.

Bis zur Jahrtausendwende funktionierte das in Köln ersonnene närrische Muster ohne große Probleme, gehörte der organisierte Mummenschanz zu den Säulen gesellschaftlichen Lebens. Wer immer es irgendwo zu etwas bringen wollte, musste den Marsch durch die närrischen Institutionen antreten. Nicht selten waren es wie in Mainz die Bürgermeister der Stadt, die in den närrischen Vereinen ihre Rhetorik schulten, den Umgang mit dem Volk perfektionierten.

Und heute? In Köln und Mainz, aber auch in vielen Kommunen zwischen Stuttgart, Konstanz und Freiburg sind die großen Fastnachtsvereine in den Würgegriff einer Selbstbedienungsgesellschaft geraten. Einer durch Netzwerke verbundenen kommunalen Elite, um die sich wie in Mainz zurzeit die Staatsanwaltschaft kümmert. In Aachen übereignete man dem politischen und gesellschaftlichen Klüngel mit der „Verleihung des Ordens wider den tierischen Ernst“ gar eine eigene närrische Fernsehshow. Damit aber zementierte man bei der Jugend, den Narren von morgen, das Bild vom närrisch organisierten Spießertum. Was sicher einmal gut gemeint war, ist so zum Marken-GAU geworden, zu einem schwer zu reparierenden Imageschaden.

Immer häufiger stellen junge Leute so selbstbewusst die Frage, ob Fastnacht überhaupt eine Organisation brauchte. Oder ob man das Fest nicht ganz dem souveränen Narrenvolk überlassen sollte, das sich nicht länger vorschreiben lässt, wie, wann und wo es seine verkehrte Welt inszeniert und was es an Kostümen, Masken oder Uniformen zu tragen hat. „Immer wieder hat man mir erklärt“, bringen die Bläck Fööss, Kölns populärste Karnevalsmusikanten, in einem ihrer Lieder die Diskussion auf den Punkt, „dass sich alles, was mir Spaß macht, nicht jehört. Tu nur deine gottverdammte Pflicht, alles andere interessiert dich besser nicht. Doch damit fühl ich mich wie einjesperrt, dann wär’t doch besser, wenn mr gleich zur Hölle fährt. Wenn du niemals an wat Neuem lecks’, wirste niemals wissen, wie dat schmeck!“

Närrische Krise als Chance begreifen
Eine Krise aber ist immer auch eine Chance. Das gilt auch für die Fastnacht, die gerade bei jungen Leuten höher im Kurs steht, als viele denken. Auch wenn einige schon das Totenglöcklein für den Karneval läuten hören wollen, die Fastnacht wird auch dieses Jahrhundert überleben. Nur nicht so, wie es mancher Brauchpfleger oder Narrenpräsident wünscht. Fastnacht nämlich ist kein Museumsfest, sondern Ausdruck einer Gegenwartskultur, die moderne Kommunikationsmedien in den letzten Jahren entscheidend verändert haben und weiter verändern werden. Zu Ende gehen die Zeiten, in denen Besucher närrischer Veranstaltungen fünf oder sechs Stunden auf harten Stühlen sitzen müssen. In Köln hat man die ersten, vor allem bei der Jugend erfolgreichen Steh-Sitzungen anberaumt. Veranstaltungen, die ins Bild einer mobilen Gesellschaft passen und jungen Leuten von Rock- und Popkonzerten her bestens vertraut sind. Und wer sagt eigentlich, dass närrische Veranstaltungen auf einen einzigen Raum begrenzt sein müssen? Warum nicht einmal einen närrischen Abend im Bus verbringen, mit Stippvisiten in Kneipen, die alle ihr eigenes Kurzprogramm offerieren?


Das alles sind Überlegungen, die allenfalls Traditionalisten auf die Palme bringen, aber längst keine Revolution mehr auslösen. Modelle, die in anderen Lebensbereichen längst erprobt sind. Oder wie wäre es mit Fastnachtspartys nach dem Vorbild erfolgreicher Dinnerabende, wo der eine zur Vorspeise, der andere zum Hauptgang und der nächste zum Dessert lädt? So könnte eine Gruppe für ein witziges Kennenlernen sorgen, was kostümierte Rollenspiele wesentlich leichter machen, eine andere für Speis und Trank. Die Letzten in der Runde könnten sich dann um die Abschlussfete bemühen. In solchen und ähnlichen neuen närrischen Formen wird sich die kommunikative Kraft der Fastnacht künftig beweisen, nicht in sechsstünd-igen Einwegprogrammen in eng bestuhlten Sälen. Und auch mehr Mut zum Improvisieren ist gefordert, spontanes Zugehen auf die Menschen. Das alles mit dem Risiko des Scheiterns, das närrisches Leben aber erst ausmacht. Gute Fastnacht lebt von der närrischen Interaktion. Die aber wandelt sich, geht mit der Zeit. Während sich auf Rockkonzerten Tausende junger Leute beim Pogo-Surfen den letzten Kick holen, wird auf vielen Karnevalssitzungen noch immer wie vor hundert Jahren geschunkelt. Auch Sitzungspräsidenten braucht die Jugend heute nicht mehr – ebenso wie Elferräte, die beide einer Zeit entstammen, als das Publikum noch um die Rolle beider Institutionen wusste. Präsidenten und Räte stammen aus der Welt kommunaler oder wirtschaftlicher Machteliten. Heute aber braucht es fastnächtliche Wegweiser, die sich einer närrisch verkehrten Welt ebenso verpflichtet fühlen wie dem Gemeinwohl.

Welche Funktion also kommt der Fastnacht künftig zu? Die Zeiten, als Tanz und Spiel im Winter auf die Zeit vor Aschermittwoch begrenzt waren, sind lange vorbei. Sexuelle Freiheiten, die man vor allem den Frauen früher nur an Fastnacht zugestand, spielen heute ebenfalls keine entscheidende Rolle mehr. Und auch als Masken- und Kostümzeit hat die Fastnacht ihr Monopol verloren. Schnell aber könnte die Fastnacht zu neuer Blüte finden, nicht in den großen Sälen und Hallen allerdings, sondern in den Kneipen der Stadt, wo eine neue Generation, die gelernt hat, mit Krisen umzugehen, näher zusammenrückt. Spontan wird es da zugehen, oft auch improvisiert, mit Spiel und Tanz als dominierenden Elementen. Nur so auch werden sich jene Menschen in das Fest integrieren lassen, die jetzt noch abwartend und staunend danebenstehen: die vielen Migranten und nicht deutschstämmigen Bürger, denen allein sprachliche Hürden den Weg zum traditionellen Sitzungskarneval verstellen. Diese Form der Fastnacht ist keine medienwirksame. Ein Fest fürs Herz, nicht für das Auge, und somit dem umtriebigen Geschäft der Meinungsmacher entzogen. Familiärer wird es werden, regionaler und globaler. Diese Summe der Widersprüche wird zum neuen närrischen Kapital.


Die Freiheit des Narren
ist die einzige,
die wir in diesem Staat
noch haben.



Wichtigste Säule des Mummenschanzes ist und bleibt die Straßenfastnacht. Vor allem, weil sie Feiern zum Nulltarif erlaubt und damit anders als die Saalfastnacht mehr Menschen offensteht. Sie ist die demokratischste Form des Festes und vielleicht gerade deswegen bei den Ordnungsbehörden im kritischen Visier, die das Feiern im öffentlichen Raum immer mehr einschränken oder es allein kommerziellen Veranstaltern übereignen wollen. Braucht es aber noch Umzüge, die Security-Leute durch Menschenspaliere schleusen? Braucht es genehmigte Züge, die pünktlich auf die Sekunde unterwegs sind? Oder reicht es, wenn die Narren nach Lust und Laune durch die Straßen ziehen, mal hier, mal dort Station machen? Umzüge sind nicht nur Schaulaufen, sondern vor allem Begegnungen. Nachhaltige Fastnacht, um diesen Begriff zum Schluss hier einzuführen, ist eine auf das Du abgestellte Feier, die gemeinschaftliches Erleben erst möglich macht. Kein Abbild einer Ellenbogengesellschaft jedenfalls, die Wachstum um jeden Preis predigt. Nachhaltige Fastnacht ist so auch eher ein Fest der leisen Töne, kein marktschreierischer Wettbewerb. Wichtig ist nicht, ob sich tausend Hände einen ganzen Abend zum Himmel recken, dass ein Gag den nächsten jagt, sondern dass sich die Seelen berühren. Fastnacht nämlich ist die Zeit des Miteinanders. Kirchen, Kinos, Theater, Konzert-arenen oder Sportstadien kann man alleine besuchen, auch vor dem Bildschirm braucht man in der Regel keinen Partner. Das Du jedenfalls wird in der heutigen Zeit kaum noch gefordert. Fastnacht aber verlangt danach. Narrsein ist die Begegnung der Seelen. Eine tiefe Erfahrung, die jedem zugänglich ist, der sich darauf einlässt. Ein Gefühl, das keine Schule zu vermitteln in der Lage ist, erst recht kein Museum. Auch kein Elternhaus, das allenfalls vorleben kann, wie närrische Solidarität aussieht. Elternhaus und Schule können helfen, Identitäten zu stärken, die Mundart zu pflegen und die Geschichte der Fastnacht neu ins Gedächtnis rufen. Das alles aber sind nur Bausteine für den langen Weg vom eigenen Ich zum närrischen Du.

P. S.
Dies ist kein Plädoyer gegen die organisierte Fasnet, gegen die Männer und Frauen in den närrischen Organisationen. Lasst aber den jungen Narren mehr freien Lauf, den wilden Gruppen, den unangepassten Chaoten, die das Salz in der närrischen Suppe sind. Fastnacht ist kein Museumsfest, sondern zeitlich begrenzter Ausnahmezustand, der nicht unbedingt Regeln unterworfen sein muss. Die Freiheit des Narren ist die einzige, die wir in diesem Staat noch haben, der jedem von uns eigentlich alle Freiheiten gewährt.

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