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Wenn der Scheller mit dem Roller ...
Die archaische Männer-Fasnacht von Imst in Tirol

Text & Fotos: Wulf Wager

Die knisternde Spannung ist schon am Vorabend spürbar. Die kleine Stadt im Inntal wirkt an sich ruhig, doch in den Gasthäusern fühlt man das über Jahre angestiegene Fieber – das Fasnachtsfieber. Denn sehr oft kommen die Menschen hier nicht in den Genuss, ihren Brauch zu feiern. Nur alle vier bis fünf Jahre antworten die Imster auf die Frage ihres Obmanns „Wolle mr huire wieder in die Fåsnocht gian“ mit einem aus dem Herzen schreienden „Ja!“.



Der Abend vorher

Die lange Fasnachtsabstinenz lädt die Aktiven spürbar bis unter die Haarwurzelspitzen auf. Wie eine bis zum Bersten angespannte Feder wirken die Fasnachter. Luis ist der Vizeobmann der Imster Fasnacht. Noch hektischer als es sonst seinem quirligen Wesen entspricht, nippt er an seinem Almdudler. Lange Jahre war er der Vorroller des Imster Schemenlaufens. Eine herausragende Position und eine hohe Ehre für den Ausführenden. Man sagt ihm heute noch nach, dass es keinen geschmeidiger springenden Roller gab. Luis lebt für die Fasnacht. Er betreut das Haus der Fasnacht, ein nach modernsten Gesichtspunkten eingerichtetes Museum der alten Imster Fasnacht (in Imst schreibt man das Wort ohne t). Darauf ist er stolz. Auf seine „Fåsnocht“ ist er stolz und auch darauf, dass die Imster Fasnacht in die Liste der schützenswerten immateriellen Weltkulturgüter der UNESCO aufgenommen worden ist – als einziger Fastnachtsbrauch Österreichs. Das erzählt uns der Luis am Vorabend des Imster Schemenlaufens. Auch wir sind gespannt und erwartungsfroh. Noch lange sitzen wir an diesem Abend zusammen und der Luis erzählt uns eine Geschichte nach der anderen, während immer wieder Aktive und Freunde der Imster Fasnacht an unsern Tisch kommen, den Luis herzlich begrüßen und auch uns Freundlichkeit spüren lassen. Auch die Landesrätin für Kultur des Landes Tirol ist dabei. Natürlich kennt sie den Luis und weiß seinen Einsatz für die Fasnacht zu schätzen. Wie selbstverständlich ist man beim Du. Beim Heimgehen entdecken wir, dass an vielen Brunnen von den Imstern Kerzen angezündet wurden.

Der erste "Kroas": außen die Ordnungsmasken, innen Scheller und Roller


Roller und Scheller beim "Gangle"

Der Tag bricht an

Mühsam quälen wir uns frühmorgens lang vor Tagesanbruch aus dem Bett. Der Abend dauerte dann doch länger als geplant. Aber versäumen wollen wir nichts von diesem Fasnachtsfreudentag. Und der beginnt um 6 Uhr in der Frühe mit einer Messe zum Gedenken an die verstorbenen Fasnachter. Kaum hat der Priester den Fasnachtern den Segen erteilt, schon strömen die Aktiven und ihre Helfer nach draußen. Kerzen werden auf den Gräbern angezündet und vor der Kirche findet das „Figatter“ statt, bei dem mit verteilten Rollen die Missgeschicke der Imster Bürger glossiert werden. Eisig ist es an diesem Morgen, aber es verspricht ein sonniger Tag zu werden.

Jetzt kommen die Stunden der Frauen, die ansonsten aus dem aktiven Treiben ausgeschlossen sind, denn die Imster Fasnacht ist eine reine Männerfasnacht. Alle Rollen, auch die weiblichen, werden von Männern ab 16 Jahren dargestellt. Alle Fasnachter müssen angezogen werden. Scheller und Roller, die beiden herausragenden Figuren, die mit Ausnahme des Vorrollers immer paarweise unterwegs sind, werden gar in ihre wertvollen Kleider eingenäht, damit bei dem nun folgenden mehrstündigen Schemenlaufen sich nichts lockern und verrutschen kann. Die feinen, handgestrickten Strümpfe werden an die Lederhose genäht, die ebenso eleganten Baumwollhandschuhe mit den bunten Maschen am Hemd fixiert, Schärpen angeheftet und die schnallenbesetzten Trachtenschuhe auf Hochglanz poliert. Überall finden sich farbige Maschen: an den Handschuhen, auf den Schuhen, an den Hemden ...

Mystisch wirkt der Roller vor dem Rauch, den einer der Aufzugswagele verbreitet.


Baurensackner karikieren Tiroler Bauern. Sie gehören zu den
Ordnungsmasken und bieten gerade bei der Gestaltung des
Kostüms einen größeren Spielraum.

Auch Wifligsackner schlüpfen in die alte Tracht der Tirolerin mit ihrem schweren, ausladenden Wiflingrock. Der weite Rock dient der Platzmacherfigur dazu, die Besucher des Schemenlaufens außerhalb des „Kroas“ zu halten, in dem die Scheller und Rollerpaare ihre „Gangle“ machen. Die Altfrankspritzer, Mohrenspritzer, Engelspritzer, Turesackner, Bauresackner, Kübelemajen schaffen mit ihren Gerätschaften Platz für die Hauptmasken Scheller und Roller. Die Sackner benützen einen mit getrockneten Maisblättern prall gefüllten, kugelförmigen Sack und die Spritzer eine kupferne, mit Wasser gefüllte Spritze, um die Zuschauer zurückzudrängen. Kübelemajen bepudern die Gäste mit Mehlstaub. Bären und Bärentreiber, Affen, die Einzelfiguren wie der Vogelhändler, alle müssen sich aufputzen, um das nur sechs Stunden dauernde bunte Spektakel als Zeugnis Tiroler Volkskultur zu leben. Denn das tun sie. Es ist eine Show, keine Vorführung – die Imster leben für die Fasnacht.

Und während die Aktiven sich in ihr Fasnachtsgewand stürzen, reiten derweil schon die Fasnachtsausrufer auf ihren prächtigen Rössern durch die Stadt und verkünden unter Fanfarenklang die hohe Zeit. Dann ist der Aufzug. Von der Unterstadt ziehen alle Aktiven über Stunden hinweg in die Oberstadt. Alle tragen bereits ihre historischen Fasnachtskleider, aber der Aufzug bietet die Möglichkeit zur Parodie auf die bewegenden Ereignisse der vergangenen Zeit. Unglaublich viel närrischer Witz ist da zu sehen. Kleine Aufzugswagele mischen sich in die unorganisierte Vielfalt. Dazwischen immer wieder Scheller- und Rollerpaare, die sich mit ihrem „Gangle“, ihrem nahezu erotischen Tanz, prachtvoll in Szene setzen.


Das Gangle

Der Roller mit seinen weiblichen Gesichtszügen neckt
den Roller mit seinem „Bemsl“ und fordert ihn zu einem
„Gangl“ auf. Der „Bemsl“ ist eine Art Besen aus kunstvoll
gehobelten Spänen. Nun verbeugt sich der Roller und
macht einige Luftsprünge, dreht sich um sich selbst, immer
wieder ein Bein künstlerisch in jahrhunderte altem Ritual
tänzelnd vor sich her werfend. Sein „Gröll“, der aus 40 bis
48 runden Rollen besetzte Ledergurt, klingt hell während
seiner leicht wirkenden Bewegungen. Währenddessen bringt
der Scheller seine bis zu 40 Kilo schweren Kuhglocken, das
sogenannte „Gschall“ durch Grätschsprünge und fast
anzüglich wirkende Hüftbewegungen zum Schellen.
Ein faszinierendes Schauspiel. Nach kurzem Beobachten
erkennt man Unterschiede. Manche Paare mühen sich
redlich, andere vollführen die perfekte Eintracht.
Der Roller muss, wie es in Imst heißt, einen „Schlånz“
haben. Ein guter Roller muss auch noch am Abend
Ausdrucksvoll präsentiert der
Altfrankspritzer seine Larve mit der
Rosshaarperücke.
nach dem Schemenlaufen vorwärts und rücklings
frei auf einen Wirtshaustisch springen können.


Schemenlaufen in Imst, Anfang 19. Jahrdt., aquarellierte Federzeichnung von Karl von Lutterotti,
Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck


Auf dem Schellerstecken, der Brezeln trägt, steckt ein frischer Apfel. Den bekommt die Frau, die den Aufputz gemacht hat. Den Kopf ziert nämlich bei beiden der „Schein“, ein mitraförmiger Aufputz aus Silberdraht, Glaskugeln und Papierröschen. Den Schein des Schellers umkränzen Eibenbüschel und den des Rollers drei Glasfaserbündel. In der Mitte des Scheins ist ein Spiegel angebracht. Man sagt, dass der Roller so hoch springen muss, dass er sich im Spiegel des Schellers sehen kann. Damit das auch gelingt, trainieren die Imster schon seit dem Herbst. Viele gehen ins Fitnessstudio, fast alle verzichten auf das Skifahren. Es ist ja nicht auszudenken, wenn man sich verletzen würde und nicht am Schemenlaufen teilnehmen könnte. In weiteren fünf Jahren könnte man ja vielleicht schon zu alt sein ...

Deshalb wird auch ab dem Dreikönigstag mit „Gröll“ und „Gschall“ geübt. Immer an den Sonntagabenden. Allerdings ohne Larve. Das nennt man „Schalleprobiere“, höchstens 55 Paare trainieren. Auch die anderen Gruppen üben, die Hexen, die Bären, die Hexenmusik mit dem „Scheißhäuslbass“...


Die Zeit wird angehalten

Imposant sind die großen Festwagen, die feste Gruppen schon seit dem vergangenen Herbst gebaut haben. Bis zu 100.000 Euro werden hier investiert. Alle Festwagen ziehen schon am Tag vorher auf und stehen den Besuchern die ganze Nacht auf dem Stadtplatz offen. In den Wagen, den Wagenhöhlen, sind ganze Gastwirtschaften eingebaut, in denen sich der Besucher vergnügen kann. Die Einnahmen daraus dienen der Refinanzierung. Über Wochen hinweg haben die Gruppen, Abend für Abend und an vielen Wochenenden gebastelt, ge­schreinert, gezimmert, geschweißt und sind zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden. Karnevalistische Gefährte sind verpönt. Streng geheim werkeln die Männer an ihren Wagen in leer stehenden Lagerhallen oder eigens errichteten Verschlägen. Eine Jury wird die Wagen beim Schemenlaufen bewerten. Die Wagen sind so groß, dass man im Vorfeld mit Latten den Umzugsweg ausmisst und auch einklappbare Teile am Wagen anbringt. Sollte dennoch ein Dacheck während des Umzugs hindern, so sägt man das halt kurzerhand ab und nach der Fasnacht wird es wieder hergerichtet. Kein Problem in Imst. Durch solche Schwierigkeiten kommt es allerdings immer wieder dazu, dass der Aufzug länger dauert als geplant. Da das Schemenlaufen aber Punkt 12 Uhr beginnen muss, wird einfach die Kirchturmuhr angehalten. Und so erlebten wir, dass es in Imst eine ganze Dreiviertelstunde lang fünf vor zwölf war ...

Zwei Altfrankspritzer in herrlicher Renaissancetracht mit dem verkehrt
herum getragenen Dreispitz und dem weißen Spitzenplastron.

Unglaublich aufwändig und liebevoll sind die nahezu haushohen Wagen der Wagenbauergruppen gestaltet.

Die Hexe trägt ein „Gschnapp“, eine zweiteilige Larve mit beweglichem Kiefer.


Zwölfeläuten um kurz vor eins ...

Zuvor haben sich die Fasnachter noch mit einem Glas gestärkt und dann ist es endlich so weit: Während das restliche Mittel­europa bereits 12.45 Uhr hat, ist es in Imst erst 12 Uhr. Die Kirchturmuhr schlägt und die Stadtkapelle intoniert den Imster Fasnachtsmarsch. Schnell ziehen alle ihre Larven wieder auf und der Puls schwillt für die nun folgenden sechs Stunden bis zum Betzeitläuten stark an. Es öffnet sich die Tür des Gasthofs Hirschen und der schwarz-weiße Turesackner eröffnet den Reigen der nacheinander aus dem Gasthaus wallenden Masken. Die Ordnungsmasken formieren sich zu einem ersten „Kroas“ und schaffen Platz für Scheller und Roller. Die wiederum bilden einen zweiten, konzentrischen Kreis. Ein dritter der Hexen folgt. Dazwischen Einzelmasken, wie der Vogelhändler und die Rof’n-Kathl. Es scheint chaotisch, aber die Durchführung ist durchaus organisiert. Alle kennen die Regeln. Sobald alle in mehreren Kreisen vereint sind, wird eingeführt. Das ist eine hohe und unverzichtbare Ehre. Die Scheller- und Rollerpaare führen bestimmte Besucher in den Kreis ein und tanzen dem jeweiligen zu Ehren ein „Gangle“. Der Geehrte übergibt einen Obulus in eine Kasse und erhält eine Brezel und eine Miniaturmaske. Dieser Ritus dient der Ehrbezeugung und der Aufbesserung der Kasse des Fasnachtskomitees. Auch die Hexen dürfen einführen.

Zwischen den kraftstrotzenden Paaren glossieren die Laggeroller- und Laggescheller-Paare das hochmütig und hoffährtig wirkende Gebahren von Scheller und Roller. Sie stellen die lendenlahmen Alten dar. Nur spärlich sind ihre Bewegungen, ihre Schellen sind aus Holz und klacken müde.


Gelebte Mystik

Was treibt die Männer an? Das ist ein Geheimnis, wie auf der Website der Imster Fasnacht zu lesen ist. „Unerklärbar. Gelebte Mystik. Sicher ist: Alle drei bis fünf Jahre gehen die Imster in die Fasnacht und das mit ungebrochener Begeisterung. Zwischen zwei Fasnachten dann noch die Fasnacht der Buben – genau dasselbe wie die der Männer. In jedem Fall farbenprächtig, quirlig, voll Bewegung und doch nach einem alten Ritual, genau geregelt. Ein Umzug Maskierter durch die Stadt, tradiertes Tanzen, Springen, überschäumende Lebensfreude, aber auch ernstes Bewusstsein, in eine uralte Tradition eingebunden zu sein.“ Rund 900 Imster Männer tragen dieses einmalige Bewusstsein in sich und wirken aktiv am Schemenlaufen mit.

Die in Frack und Zylinder gekleideten Kaminer tragen lediglich Halbmasken, die Mund und Nase bedecken. Sie machen die Maskenträger aber genauso unkenntlich wie eine Vollmaske. Während sich unter ihnen die „Kroase“ drehen, klettern sie akrobatisch mit Leitern über mehrere Stockwerke in die geöffneten Fenster der Imster Bürgerhäuser. Dort schwärzen sie den Zuschauerinnen das Gesicht mit Ruß.

Laggerolller und -scheller – die lahmen Alten
Langsam bewegt sich der Zug der 900 Imster Masken wieder zur Unterstadt hin, gefolgt von den großen Wagen, in deren Wagenhöhlen so manches Stamperl ausgeschenkt wird. Während einer cirka halbstündigen Pause können die Masken kurz verschnaufen und Kraft tanken. Der Tradition folgend wird vor jedem Brunnen vor Amts- und Gasthäusern ein „Kroas“ gemacht. Nach dem vierten „Kroas“ spätestens spüren die Masken, wie die Aktiven genannt werden, die Muskeln. Hier zeigt es sich, ob man genügend geübt hat. Die Stunde der Wahrheit. So zieht der Zug Hunderter Masken in die Unterstadt Richtung Stadtplatz. Um 18 Uhr mit dem Betzeitläuten ist Schluss. Alle, Maskierte und Publikum, sind am Stadtplatz versammelt. Noch einmal wird ein Schuss Adrenalin freigesetzt, werden letzte Reserven mobilisiert, findet im allerletzten „Kroas“ noch einmal ein Aufbäumen statt. „Das so genannte ,Z’såmmschalle‘ ist der furiose Schlussakt der Fasnacht. Alles ist in Bewegung, alles springt, tänzelt, dreht sich, juchzt, spielt. Blasen an der Ferse, Schmerzen im Knie, wund gerieben im Gesicht? Egal! Die Fasnacht geht zu Ende, sie hat eine finale Anstrengung verdient, auch das eine Sache der Ehre!“, so beschreiben die Imster den Schlussakt. Um 18 Uhr muss die Larve abgesetzt werden „sinscht wåchst sie ou!“, sagen die Imster. In den Gasthäusern wird anschließend lange gefeiert und manches „Gangle“ wird vollführt, allerdings ohne Larven. Wir begegnen Luis wieder. Tränen der Freude sind in seinen Augen zu entdecken.

Am Montag dann ist die Fasnacht der Imster, die Wilde Fasnacht – ohne Larven geht man da, die strengen Regeln gelten nicht mehr, alles ist Freude pur!



Das nächste Imster
Schemenlaufen findet statt am:
www.fasnacht.at




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